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Was in der Berichterstattung um das Coronavirus falsch lief
Mo, 27.4.20

Was in der Berichterstattung um das Coronavirus falsch lief

Ein Kommentar von Patrick Vexler

Die Einschaltquoten und Leserzahlen schießen in diesen Zeiten in die Höhe. Das zeigt nicht nur, wie langweilig uns ist, sondern auch, wie wichtig glaubwürdiger Journalismus ist. In Krisen zeigt sich, ob JournalistInnen ihr Handwerk unter besonderen Umständen immer noch so ausführen, wie sie es sollten. Sicher, es ist etwas zu früh für eine richtige Analyse, aber grob lässt sich schon einiges sagen.

Vorab: Journalist*innen sind systemrelevant und trotz dieser krassen Zeit und aller berechtigten Kritik bewahren viele Redakteur*innen einen kühlen Kopf und machen solide Arbeit. Mit diesem Artikel möchte ich lediglich kritische Denkanstöße geben. Ich weiß als ehrenamtlicher Radiomacher, wie schwer es manchmal ist, sich an ethische journalistische Standards zu halten. Der Journalismus gilt aber nicht umsonst als vierte Gewalt und sollte auch so begutachtet werden - kritisch.

Die Zahl der Infektionen

Die Zahl, wie viele Menschen mit COVID19-Infektion dem Robert Koch Institut gemeldet sind, kennen wir alle. Aber hilft sie uns weiter, uns ein rationales Bild der Lage zu machen? Nein. Und zwar aus folgenden Gründen:

Die eigentlich wichtige Zahl ist nämlich die Dunkelziffer. Sie könnte mehr Informationen geben. Das tut sie aber nicht, weil sie noch unerforscht ist. (Aktuell wird sie zwar erforscht, die Forschung ist aber nicht abgeschlossen.) Dementsprechend wissen wir nur, wie sich die Infektion in den Ansätzen entwickelt. Es gibt eben noch keine Studien oder Ähnliches über die Dunkelziffer, daher gibt es kein Verhältnis. Das ist den meisten klar, jedoch dürfen Medienhäuser nicht von allen erwarten, mit dieser Zahl so vorsichtig umzugehen.

Ob die Zahl der COVID-19-Immunen im Verhältnis zu den Infizierten wirklich weiterhelfen würde, weiß ich auch nicht. Vielleicht hilft es für ein rational begründetes Bild, beide Zahlen zu zeigen, aber einzuordnen. Ja, auch bei den Immunen & Genesenen gibt es eine Dunkelziffer, aber eine ungefähre Entwicklung lässt sich ablesen, auch wenn sie sehr vorsichtig zu lesen ist.

Fokus aufs Wesentliche

Die aktuelle Berichterstattung beschäftigt sich viel mit Details. Und das ist prinzipiell gut, aber manchmal wird das Wesentliche mit Details verwechselt. So tauchen immer mehr Reportagen über einzelne besonders schwere Corona Fälle auf. Die Reportagen im Einzelnen sind journalistisch gute Arbeit. Aber durch die schiere Masse entsteht der Eindruck, dass ein Großteil aller COVID-19-Fälle so verlaufen. Das spiegelt die Realität aber nicht wider. Die schweren Krankheitsfälle machen einen Bruchteil aus, das vergessen einige sehr schnell dabei. Natürlich ist es sinnvoll, krasse Fallbeispiele zu zeigen, um den Ernst der Lage aufzuzeigen, den ich hier auf keinen Fall abstreiten möchte. Aber die Medienlandschaft hat schlicht zu viele Fallbeispiele. Wichtiger sind Meldungen über ernsthafte Erkenntnisse über das Virus und den Verlauf der Pandemie.

Verantwortungsbewusstes Abwägen

Bevor wir uns an diesen Gesichtspunkt wagen, steigen wir erst mal in die Theorie ein. Im Journalismus findet immer ein Abwägen statt. Das eine Extrem ist reine kritische Distanz. Wer hyperkritisch schreibt, ignoriert Nebenfolgen und riskiert, dass die Leser*innen sich ein irrationales, oder ein sogar verschwörungstheoretisches Bild der Lage machen.

Das andere Extrem wäre rein „weitsichtiges“ Schreiben. Wer weitsichtig schreibt, achtet darauf, was die Leser*innenschaft aus dem Artikel für Schlüsse zieht. Redakteur*innen verfallen hier leicht dem Hofjournalismus und übernehmen unkritisch Pressemitteilungen von Unternehmen oder Regierungen.

Schauen wir uns den Beginn der Berichterstattung über die Pandemie an, also alles bis ca. Mitte März. In dieser Zeit konnte man das eine Extrem, das „weitsichtige“ Schreiben, sehr gut sehen. Die Professoren für Journalistik, Klaus Meier und Vinzenz Wyss, beschreiben die Arbeit der Journalist*innen in einem Gastbeitrag bei „meedia.de“ so: „Sie transportierten (…) kritiklos und kaum mit eigenen Recherchen flankiert die Analysen und Forderungen weniger dominanter Virologen und die Entscheidungen der Regierungen.“

Wissenschaft streitet fast immer. Eine der wenigen bekannten Ausnahmen ist z. B. die Existenz des menschengemachten Klimawandels. Sonst sind wenige Dinge so eindeutig. Warum wird dieser Streit kaum abgebildet?

Manche halten rein weitsichtiges Schreiben für angebracht. Viele schockierende Zahlen und nicht eingeordnete Aussagen sind okay, schließlich geht es um #flattenthecurve. Die Menschen werden eingeschüchtert und bleiben lieber zuhause. Andere finden, unkritisches Schreiben ist nicht Mittel zum Zweck. Wenn unausgewogen und unreflektiert geschrieben wird, weil es einem guten Zweck dient, sei das katastrophal. Diese Mentalität von Journalist*innen lässt dann etwas an glaubwürdigem Journalismus zweifeln.

Aber okay, wir reden hier nur vom Anfang der Berichterstattung. Glücklicherweise kann man sagen, dass ab Mitte März kritischere Stimmen mehr Gehör fanden. Interviews mit Psycholog*innen, vielfältigere Talkshows. Wie es sich für den Journalismus gehört, wurden Maßnahmen eingeordnet, reflektiert und kritisch hinterfragt

Persönliches Fazit

Inzwischen macht der Journalismus einen deutlich besseren Job als Anfang März. Das heißt nicht, dass der Journalismus inzwischen einen perfekten Job macht. Es gibt immer noch einige Defizite. Die Redaktionen, Private und Öffentlich-Rechtliche müssen ihre Arbeit regelmäßig reflektieren, das nehme ich gerade nicht wahr. Generell basiert dieser Artikel größtenteils auf Eindrücken. Die gesamte Medienlandschaft kann man erst nach Ende der Pandemie ausgiebig analysieren.

Ich möchte „die Medien“ nicht pauschal kritisieren. Sicherlich, einige Redaktionen machen einen sehr guten Job. Aber hier tut sich das klassische Dilemma auf, eine Masse zu benennen, ohne zu verallgemeinern.

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Foto: Calvin Hein
Patrick Vexler
Mitglied der Zitro-Redaktion