Mitmachen!

Werde selbst aktiv und kämpfe mit uns für eine bessere Welt. Egal ob auf der Straße oder in den Sozialen Medien – wir freuen uns über jede Art von Mithilfe.

Vom Behindertwerden und Behindertsein
Mo, 21.6.21

Vom Behindertwerden und Behindertsein

Ein (alter,) neuer Blick auf Behinderung und die Menschen, die sie erleben
Von Leo Buchholz

Menschen mit Behinderung sind durch die Geschichte hinweg immer mit Verachtung und Diskriminierung konfrontiert worden. Die Aufmerksamkeit auf diese Missstände ist nach wie vor nicht die Größte. Dabei unterschätzen wir häufig, wie gigantisch groß die Zahl der Menschen mit Behinderung eigentlich ist. Die Kategorisierung des statistischen Bundesamtes ist zurecht umstritten, 2014 wurden dort aber allein in Deutschland 7,5 Millionen Menschen mit einer sog. Schweren Behinderung gezählt, dazu zusätzlich 2,7 Millionen, die als leichter behindert aufgeführt wurden. Da Statistiken von Institution zu Institution sehr unterschiedlich geführt werden und es auch hier eine Dunkelziffer gibt, rechnet man allein in Deutschland mit mehr als 12 Millionen Menschen mit Behinderung (1). Menschen mit Behinderung sind dabei in den allermeisten Fällen in ihrem gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Wir, die Gesellschaft, haben sich daran zu messen, wie gut die Inklusion von Menschen mit Behinderung gelingt. Wir sind aus einem zeitgemäßen Blickwinkel sogar dafür verantwortlich, dass Behinderungen entstehen.

Als Gesellschaft haben wir wie selbstverständlich formuliert, welche Sprache, welches Verhalten und welche Denkweisen üblich und gesellschaftsfähig sind. Diese Normen sind kulturell gewachsen, sie bringen uns dadurch dazu, Rollen innerhalb der Gesellschaft anzunehmen, z.B. die der Schüler:in (2). Einer Rolle, in unserem Beispiel jetzt die Rolle der Schüler:in, werden außerdem immer gewisse Anforderungen beigemessen, im Fall von Schüler:innen sind aus traditioneller Sicht Anforderungen wie Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit oder das Bewusstsein über die Erfüllung von Pflichten. Diese Anforderungen sind aus einer soziologischen Sicht die Ursache von Barrieren und Behinderungen. Akademiker:innen nennen dieses Schlussfolgerung Sozialkonstruktivismus.

Die Auffassung, Barrieren (Hindernisse, die Menschen mit Behinderung daran hindern, am gesellschaftlichen Leben Teil zu nehmen) und damit auch Behinderungen sei von der Gesellschaft selbst geschaffen, ist der krasse Gegenentwurf zur althergebrachten Auffassung von Behinderung. Jahrhundertelang wurden Menschen mit Behinderung auf ihre medizinischen Diagnosen, und damit auf ihre angeblichen Unfähigkeiten, reduziert. Die Andersartigkeit von Menschen mit Behinderung ist aber Teil der unglaublichen Diversität unter den Menschen. Lasst uns Andersartigkeit also normalisieren und anerkennen, wie essenziell die Gesellschaft ist, wenn es darum geht, Barrieren einzureißen!

Weltweit bedeutsame Institutionen wie die World Health Organization (WHO) haben ihre Definition von Behinderung schon geupdated, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) verdeutlicht es auch: Menschen mit Behinderung würden keine Behinderung erfahren, wenn die Gesellschaft sie nicht behindern würde. Für uns als GRÜNE JUGEND kann das eigentlich nur bedeuten, dass wir:

1. Uns aktiv in unserem Verband auf die Suche nach Barrieren machen und sie Stück für Stück immer weiter abbauen
2. In all unseren Forderungen und Beschlüssen mitdenken, dass Menschen mit Behinderung noch weit davon entfernt sind in der Gesellschaft inkludiert zu sein
3. Uns bewusstwerden, dass in der GRÜNEN JUGEND unterdurchschnittlich wenige Menschen mit Behinderung aktiv sind und wir sie deshalb strukturell fördern, damit sie ihre eigenen Anliegen selbst vertreten können.

Gerade als politische Organisation, als Teil einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, zukünftig die Bundeskanzlerin zu stellen, müssen wir uns unserer Mitverantwortung für gesellschaftliche Prozesse bewusst sein. Zurzeit bewirkt die Gesellschaft, dass Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag Barrieren erleben, die sie an echter Teilhabe und Inklusion hindern. Also: Tear down these f*cking barriers, zuallererst in unserem eigenen Verband!

(1) KASTL, Jörg Michael (2010): Einführung in die Soziologie der Behinderung. 2. überarb. und erw. Auflage, Wiesbaden: Springer S. 37-40.
(2) Um die vielgeschlechtliche Vielfalt sichtbar zu machen, verwende ich einen Doppelpunkt in der geschlechterdiversen Schreibweise. Der Doppelpunkt hat den Vorteil, dass Textvorlesesoftware zwischen den Wortteilen eine Pause lässt. Das Verwenden des Doppelpunktes baut damit die Barrieren für Menschen, die auf Vorlesesoftware angewiesen sind, ab.

Leo
Leo Buchholz

Leo ist 22 Jahre als und bei den Grünen und der GJ unter anderem als Kommunalpolitiker aktiv. Abseits davon beschäftigt er sich, auch bedingt durch sein Sonderpädagogik-Studium, viel mit den politischen Themen Schuldbildung und Inklusion.