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Häusliche und sexualisierte Gewalt – break the stigma!
Sa, 20.6.20

Häusliche und sexualisierte Gewalt – break the stigma!

Ein Bericht von Katja Raiher
Hilfsangebote

Hilfetelefon häusliche Gewalt: 0800 0116016
Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 2255530
Wildwasser Stuttgart e.V.: https://www.wildwasser-stuttgart.de/selbsthilfe/

Hättet ihr gewusst, dass 22 Prozent aller Frauen in Deutschland häusliche Gewalt erfahren haben? Dass jede achte Frau auch sexuelle Gewalt ertragen musste? Dass 70 Prozent dieser Frauen Women of Colour sind? Oder, dass für Trans-Personen das Risiko häuslicher Gewalt doppelt so hoch ist als für Cys-Personen? Und behinderte Menschen sogar eine drei Mal höhere Wahrscheinlichkeit besteht? Dass jeden Tag ein Partner versucht seine Partnerin umzubringen und es ihm jeden zweiten auch gelingt?

Krass, oder? Hättet ihr das gewusst? Bis zum 14. April hatte ich keine Ahnung. An diesem Abend fand ein Webinar der GJBW zum Thema häusliche und sexualisierte Gewalt statt. Referiert haben Yvonne Wolz- Therapeutin und Geschäftsführerin bei Wildwasser- und Lysander-Nöel Liermann – Mitglied der GJ und ehemals Betroffener. Den Inhalt möchte ich im Folgenden kurz für euch zusammenfassen.

Die Beratungsstelle, bei der Yvonne arbeitet, spezialisiert sich auf Frauen*, die vor dem 18. Lebensjahr sexualisierte oder andere Arten von Gewalt erfahren haben. Bei vielen ihr Klient*innen zieht sich die Gewalt über 10, 15 Jahre. Wildwasser bietet auch Beratungen für Angehörige, Fachpersonen etc. an. Sie erzählt uns, warum besonders in der Corona-Krise die Fallzahl häuslicher Gewalt gestiegen ist und warum uns das vor strukturelle Probleme stellt.

Generell sei die jetzige Situation für viele sehr angespannt: Haushalte hockten den ganzen Tag aufeinander, häufig käme Angst wegen den Finanzen hinzu. Es sei kaum möglich kritische Situationen zuhause zu meiden, sich abzulenken. Aufgrund der Ausgangssperre falle es schwerer unbemerkt zu telefonieren, zum Beispiel mit einer Hilfe-Hotline. Kontakt zu externen Einrichtungen aufzubauen ist noch komplizierter. Geschweige denn einen Platzverweis für Täter bei der Polizei zu erreichen.

Bei manchen Frauenhäusern sei die Anfrage sehr gestiegen, dabei seien sie schon vorher am Limit gewesen. Gerade gäbe es in Baden-Württemberg keinen einzigen verfügbaren Platz. Genauso in Anspruch genommen seien Beratungsstellen. Viel zu wenig Personal spiegele sich nun in viel zu langen Wartezeiten. Was kann man tun, um dem entgegen zu wirken?

Yvonne wünscht sich einen zunächst einen Bürokratieabbau, für Betroffene müsse der Zugang zu Hilfe erleichtert werden. Des Weiteren bräuchte es mehr finanzielle Unterstützung, zum Beispiel zur Schaffung neuer, sicherer Räume und die Beschäftigung neuer Fachkräften. Auch Achtsamkeits-Workshops an Schulen solle man ausbauen. Das Land Baden-Württemberg müsse dringend mehr Geld zur Verfügung stellen, als sowieso bereits geplant sei, um den entstandenen Mehrbedarf zu decken.

Daraufhin teilt Lysander mit uns seine eigene Erfahrung mit häuslicher Gewalt. Hinterher wird er viel empowerndes Feedback erhalten. Lysander geht insbesondere auf die prekäre Situation der queeren Community ein, die übermäßig häufig betroffen ist. Das habe auch mit unserem Umgang mit ihr zu tun: Wir sollen dringend Rollenbilder bekämpfen, in denen ein Partner den anderen dominiert, ob homo oder hetero. Traumatische Erlebnisse innerhalb der queeren Community führten nur zu Minderwertigkeitskomplexen, die am Partner ausgelassen werden und somit das Risiko gewalttätig zu werden, erhöhen.

Auch Yvonne stimmt Lysander dabei zu, dass man bei der Betrachtung von häuslicher Gewalt unter die Oberfläche vordringen muss. Um eine Kehrtwende zu bewirken, müsse man über die individualisierende Ebene hinaus und sich tief verankerte patriarchalische und heteronormative Strukturen unserer Gesellschaft vornehmen. Denn bei Gewalt gehe es hauptsächlich um Macht und Abhängigkeit.

4 Arten häuslicher Gewalt

1. Finanzielle Abhängigkeit
2. Emotionale & Verbale Gewalt
3. Physische Gewalt
4. Sexuelle Gewalt

Interview mit Lysander-Nöel Liermann

Über häusliche Gewalt aufgeklärt zu werden hat mich erstaunt, erschüttert und empört. Diese Thematik sollte der Öffentlichkeit nicht weiterhin verschwiegen werden. Auch innerhalb der GJ können wir uns damit auseinandersetzen, um langfristig ein gesellschaftliches Umdenken zu initiieren. Zu diesem Zweck, und weil ich unbedingt mehr darüber lernen wollte, habe ich Lysander um ein zusätzliches Gespräch gebeten.

Lysander setzt sich auf Kommunal,- Bundes- und europäischer Ebene für grüne Ziele ein. Er hat meistens ein Lächeln auf den Lippen, oft ein nettes Kompliment zu verschenken, nie ein böses Wort. Dabei hat er selbst bereits ganz andere Umgangsformen erleben müssen. Viele Jahre seines Lebens war er selbst Opfer häuslicher Gewalt. Heute ist er es leid, dass dieses Thema ständig tabuisiert, unter den Teppich gekehrt wird. Deshalb will er der Politik lautstarke Forderungen entgegenbringen. Im folgenden Interview gibt er uns einen Einblick in die Probleme und mögliche Maßnahmen.

Katja: Basierend auf deinen eigenen Erfahrungen mit häuslicher Gewalt – was kannst du Betroffenen, die das vielleicht lesen, mit auf den Weg geben?

Lysander: Puh (lacht), so eine schwierige Frage ganz am Anfang. Aber ich werde versuchen eine gute Antwort zu finden… Mir hat es damals immer geholfen mit meinen Freunden über die Situation zu reden. Menschen, die für einen da sind und einen nicht verurteilen, können in der Situation auf jeden Fall eine Stütze sein. Ihr seid weder Schuld, noch habt ihr es verdient, in dieser Situation zu bleiben. Auch wenn es euch in dieser Situation schwerfällt, versucht euch klar zu machen, dass es nicht besser werden wird und ihr raus müsst aus dem Verhältnis zu dem Täter.

Katja: Wie also sollten sich Freunde oder Angehörige verhalten, wenn sie helfen wollen?

Lysander: Da sein, dauerhaft, das ist das A und O. Einen „safe space“ anbieten, eine Hand ausstrecken. So ein Satz, wie „Du kannst immer zu mir kommen, wenn du reden möchtest“ hilft enorm. Dabei sollten sie ihre eigene Psyche nicht kaputt machen. Häusliche Gewalt überlagert oft alle anderen Lebensbereiche, das kann auch für Außenstehende sehr belastend sein. Und sie sollten sie sich auf keinen Fall selbst in Gefahr bringen, wenn es sich um einen gemeinsamen Bekannten handelt.

Katja: Warum zieht sich die Gewalt oft über viele Jahre? Warum fällt es Betroffenen oftmals schwer auszubrechen?

Lysander: Diese Frage stelle ich mir auch ganz oft. Häufig gibt es neben der Gewalt auch eine emotionale Abhängigkeit vom Täter. Der gewalttätige Partner kann dich beispielsweise von allen anderen sozialen Kontakten abschotten. Er kann dich manipulieren, dir einreden, dass du nur ihm vertrauen könntest. Dass es doch gar nicht so schlimm sei und du übertreibest. Leider glauben die Opfer das oft irgendwann. Besonders, wenn es sich um eigene Familienmitglieder handelt, ist die Situation sehr komplex.

Katja: Wie und wo können Betroffene selbst sich Hilfe holen?

Lysander: In akuten Situationen – so schnell es geht aus der Situation gehen. In Corona-Zeiten hat man aber leider nicht mehr so viele öffentliche Räume, in die man sich tagsüber zurückziehen kann. Die Telefonseelsorge ist ein guter erster Anlaufpunkt, vor allem, wenn man nicht von zuhause wegkann. Einen Termin bei einer Beratungsstelle kriegt man meist auch relativ schnell. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Beratungsstellen einen super Job machen. Je nach Dringlichkeit können sie sehr schnell Hilfe anbieten.

Katja: Welche gesellschaftlichen Gruppen werden besonders häufig Opfer häuslicher Gewalt?

Lysander: Es ist offensichtlich, dass marginalisierte Gruppen, wie queere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderung überproportional betroffen sind. Die Dunkelziffern sind wahrscheinlich noch höher, da die Betroffenen vergleichsweise wenig über ihre Erfahrungen sprechen. Auch deswegen braucht es neben Frauenhäusern auch queere Krisenwohnungen, das kann ruhig Hand in Hand gehen. Außerdem gibt es viel zu wenig qualifizierte Studien, die genau auf diese Gruppen gucken. Die Politik müsste dringend solche Studien in Auftrag geben.

Katja: Einen Ausweg aus der Gewalt bieten Frauen-Häuser. Bloß sind häufig keine freien Plätze mehr verfügbar. Woran liegt das?

Lysander: An Geld fehlt es eigentlich nicht. Nur nutzt die Politik die Aussage „Wir haben kein Geld“ als Ausrede für „Es ist uns zu kompliziert dieses Thema anzugehen“. Man muss streng sein mit Regierung und Gesellschaft. Das Thema wird viel zu häufig tabuisiert. Die Gesellschaft möchte es sich nicht eingestehen, dass sie massive Probleme hat, besonders was Liebesbeziehungen angeht. Wir können erst anfangen, das Thema präventiv zu bekämpfen, wenn wir darüber Bescheid wissen. Das tun wir gerade nicht.

Katja: Wenn Betroffene rechtlich gegen die Täter vorgehen wollen, müssen sie sich zunächst an die Polizei wenden: Siehst du da für Betroffene Hürden/ Probleme?

Lysander: Die Polizei ist oft der Erstkontakt, „dein Freund und Helfer“. Dabei bringen sie den Menschen mit so einer lebensgefährlichen Traumatisierung oft wenig Verständnis entgegen. Meiner Meinung nach bräuchte es für Polizisten verpflichtende Fortbildungen zur Sensibilisierung hinsichtlich häuslicher Gewalt. Es braucht dort gut geschulte, feste Ansprechpartner*innen, die mit Betroffenen umzugehen wissen. Das gleiche gilt für das Justizsystem. Auch Lehrer*innen brauchen solche Fortbildungen.

Katja: Hast du sonst noch konkrete Forderungen an die Politik, auf Landes- und Bundesebene?

Lysander: Oh ja, einige (lacht). Das Thema muss definitiv enttabuisiert werden. Auf Bundesebene brauchen wir eine Justizreform. 77 Prozent der Verfahren werden wegen Mangel an Beweisen eingestellt oder landen erst gar nicht vor Gericht. Die Beweislage muss erleichtert und empathischer gestaltet werden. Momentan muss das Opfer die gleiche Geschichte, in genau gleichem Wortlaut zu oft wiederholen, manchmal sogar immer das gleiche Video gucken, das ist zu viel seelischer Druck. Kinder müssen oft eine Seite picken, gegen einen Elternteil aussagen. Das ist sehr problematisch, es besteht das Risiko den Kindern nachhaltig Schaden zuzufügen. Außerdem sollten diese Verfahren niemals öffentlich sein, sie sind kein Entertainment! Jedoch werden Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit zu selten gestellt und angenommen.

Auf Landesebene brauchen Beratungsstellen mehr Kompetenzen. Beispielsweise müssen Berater*innen im Gericht die gleichen Befugnisse für ein Mandat haben wie Psychotherapeut*innen. Zeugenaussagen von Beratungsstellen müssen gestärkt werden. Gleichzeitig muss der Therapieplatzmangel angegangen werden. Häusliche Gewalt geht mit mentaler Gesundheit Hand in Hand. Meiner Meinung nach hat jeder gewalttätige Partner bzw. Angehörige psychische Probleme. Damit auch ihnen geholfen werden kann, müssen psychische Erkrankungen entstigmatisiert werden. Hinzukommt der Ausbau an Plätzen in Frauenhäusern, sowie die Einrichtung queerer Krisenwohnungen und queerer Beratungsstellen. Das könnte das Land alles umsetzen. Ich frage mich da ernsthaft warum wir es noch nicht tun.

Katja: Wo siehst du dabei unsere Rolle als GJ?

Lysander: Wir können unseren Beitrag dazu leisten, die Tabuisierung zu beenden. Es gibt viele, kleinere Möglichkeiten in den Kreisverbänden, wo wir als Ortsgruppe Druck ausüben könne. Zum Beispiel auf Entscheidungsträger in Kommunen, die nicht selten Grün sind. Die GJ Freiburg hat es vorgemacht, indem sie der Stadt einen Antrag zu Frauenhäuern gestellt hat. Als GJBW sollten wir unseren Fokus auf die Landtagswahlen setzen: Das Wahlprogramm, sowie das Koalitionspapier, muss das Thema widerspiegeln. Noch wichtiger: Es muss am Ende auch umgesetzt werden.

Sprecht das Thema an! Es muss ein Ruck durch die Grünen Baden-Württembergs gehen!

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Katja Raiher
Mitglied der ZITRO-Redaktion