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Die perfekte (5.) Welle
Fr, 26.3.21

Die perfekte (5.) Welle

Wie sich rechte Einzeltäter im Internet radikalisieren
von Isabelle Neumann

Vor einem Jahr erschoss der rechtsradikale Terrorist Tobias Rathjen neun Menschen mit Migrationshintergrund. Was verbindet ihn mit den Anschlägen in Halle, München, Christchurch und El Paso? Sie alle wurden von rechtsextremen Einzeltätern begangen, zumindest teilweise inspiriert durch den norwegischen Terroristen Anders Behring Breivik. Die Täter handelten auf eigene Faust, doch woher stammen die vielen Parallelen?

Der Großteil der terroristischen Anschläge seit 1880 lässt sich vier Wellen zuordnen: der anarchistischen Welle, der antikolonialen Welle, der neu-linken Welle und der religiösen Welle. Diese folgen aufeinander und überlappen teilweise. Jede Welle dauert in etwa 40 Jahre und erfüllt bestimmte Kriterien, so folgt auf einen Auslöser eine Verstärkung der terroristischen Aktivität. Die Welle ist nicht auf eine Nation begrenzt, sondern trifft viele Länder gleichzeitig oder kurz versetzt. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen nicht im direkten Austausch miteinander stehen, wichtig ist der einheitliche ideologische Hintergrund (Auger, 2020).

Nach Rapoport, dem Begründer der Wellentheorie, befinden wir uns zurzeit noch in der religiösen Welle. Von hier aus sind verschiedene Szenarien möglich. Viele Forscher*innen vermuten den Eintritt in eine neue Welle, der (neu-)rechten Welle. Zwar ist rechter Terror an sich keine Neuerscheinung, jedoch hat er sich im Verlauf der letzten Jahre deutlich verändert. Grund dafür ist unter anderem das Aufkommen der neuen Medien, die zur Verbreitung rechten Gedankenguts beitragen.

Vergleicht man terroristische Einzel- und Gruppentäter miteinander, lassen sich einige Unterschiede erkennen. Einzeltäter sind im Durchschnitt fast zehn Jahre älter und häufiger vorbestraft als Gruppentäter. Außerdem leiden sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einer psychischen Störung. Sie planen, organisieren und vollführen den Anschlag ohne finanzielle oder personelle Unterstützung einer terroristischen Organisation. (Seidenbecher et al., 2020)

In den letzten Jahren ist diese Unterscheidung aber weniger deutlich geworden, Einzel- und Gruppentäter verschwimmen im Netz. So nutzen immer mehr Einzelpersonen Hassforen als Radikalisierungsgrundlage. Diese sind geprägt von einem gemeinsamen Nährboden rechter Verschwörungs- und Verdrängungstheorien wie The Great Replacement oder White Genocide. Sie eint die Angst vor Verdrängung durch Menschen mit Migrationshintergrund, verstärkt durch die europäische Flüchtlingskrise. Dabei dienen viele dieser Foren als sogenannte Informationsblase oder Echokammer: Nach wenigen Klicks erkennt ein Algorithmus, wofür ich mich interessiere – und liefert mir in Folge nur noch ähnliche Information. Grund hierfür sind verschiedene psychologische Mechanismen.

Frequenz und Häufigkeit der abgespeicherten Information spielen eine wichtige Rolle dabei, wie einfach ihr Abruf aus dem Gedächtnis fällt. Gelingt dies ohne große Schwierigkeiten, schreibe ich der Information einen großen Wahrheitsgehalt zu, unabhängig vom eigentlichen Inhalt. (Tversky & Kahneman, 1973) haben diese und andere sogenannte Heuristiken beschrieben. Dabei handelt es sich um eine Art kognitive Abkürzung um schneller zu einem Urteil zu kommen. Prinzipiell hilfreich, führen sie im Alltag leider häufiger zu Denkfehlern.

Besonders relevant werden Heuristiken im Bereich der Mediennutzung. Deren häufige Nutzung kann zu systematischen Verzerrungen unserer Wahrnehmung führen, wenn wir von der virtuellen auf die tatsächliche Realität schließen wollen. Wichtige Stichworte hier: Cultivation Effect, Filter Bubbles, Echo Chambers.

Rechtsextreme Gruppierungen sind sich der Macht des Internets bewusst und wissen sich diese zu eigen zu machen. So nutzt die größte skandinavische Neo-Nazi Bewegung NRA Memes, um langsam die Grenze des Sagbaren zu verschieben und rassistisches, antisemitisches und sexistisches Gedankengut zu normalisieren (Askanius, 2021).

Seit 2005 hat sich der Anteil US-amerikanischer Extremist*innen, welche sich mithilfe der sozialen Medien radikalisiert haben, mehr als verdoppelt – während sich gleichzeitig die Radikalisierungsdauer halbiert hat. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass es sich hierbei nur um einen mathematischen Zusammenhang handelt. Ob tatsächlich das Internet für die Entwicklung verantwortlich ist, lässt sich daraus nicht ableiten. (Jensen et al., 2018)

Die (neu-)rechte Welle erfüllt demnach alle Kriterien Rapoports: der gemeinsame ideologische Hintergrund und eine gesteigerte internationale Präsenz infolge verstärkter Migrationsbewegungen. Derzeit befinden wir uns noch am Beginn der fünften Welle, weshalb es besonders wichtig ist, noch vor Erreichen ihres Höhepunkts auf die veränderten Bedingungen einzugehen. Präventive Aufklärungsstrategien könnten so weitere Anschläge verhindern.

Literaturverzeichnis

Askanius, T. (2021). On Frogs, Monkeys, and Execution Memes: Exploring the Humor-Hate Nexus at the Intersection of Neo-Nazi and Alt-Right Movements in Sweden. Television & New Media, 22, 147-165. https://doi.org/10.1177/1527476420982234

Auger, V. A. (2020). Right-Wing Terror. A Fifth Global Wave? Perspectives on Terrorism, 14(3), 87-97. https://doi.org/10.2307/26918302

Jensen, Michael, James, P., LaFree, G., Safer-Lichtenstein, A., & Yates, E. (2018). The Use of Social Media by United States Extremists. Retrieved 02/18/2021, from https://start.umd.edu/pubs/START_PIRUS_UseOfSocialMediaByUSExtremists_ResearchBrief_July2018.pdf

Seidenbecher, S., Steinmetz, C., Möller-Leimkühler, A., & Bogerts, B. (2020). Terrorismus aus psychiatrischer Sicht Psychiatric aspects of terrorism. Der Nervenarzt. https://doi.org/10.1007/s00115-020-00894-0

Tversky, A., & Kahneman, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5(2), 207-232. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/0010-0285(73)90033-9

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Isabelle Neumann
Zitro-Redakteurin

Isabelle ist 22 Jahre alt und seit mehreren Jahren bei der GJ und den Grünen aktiv. Sie studiert Psychologie in Heidelberg und arbeitet nebenher als wissenschaftliche Hilfskraft in der Politischen Psychologie.